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Er ist unabsetzbar. Er kann das Parlament, das, ebenso wie er, aber
zu einem anderen Zeitpunkt, direkt vom Volk gewählt wurde, auflösen,
wann und wie es ihm gefällt. Er ernennt den Premierminister und
entlässt ihn. Er schreibt dem Außenminister und dem Verteidigungsminister
vor, was sie zu tun und zu lassen haben, er ist der oberste Befehlshaber
der Armee, er ist der Mann, der auf den Knopf der französischen
Atombombe drückt. Er ist der absolute Monarch Frankreichs. Er tut,
was er will, er muss es nicht begründen. Zuweilen lässt er
sich herab und von speichelleckenden Journalisten, den Sternendeutern
der Monarchie, interviewen, die beglückt sind, wenn er sie beim
Namen nennt.
Wie schön, wenn es den Präsidenten nicht mehr gäbe! Er
würde der Republik nicht fehlen. Man wäre nicht, wie im Sommer
dieses Jahres, gezwungen, sich tagelang um die Frage zu streiten, ob
dem armen bettlägerigen Mann nur eine »kleine Ader«
geplatzt ist, ob er »Sehstörungen« hat oder gar einen
»leichten Schlaganfall«, was wir ohnehin nicht erfahren,
da die Bulletins, die von seiner engsten Beraterin und Tochter Claude
Chirac redigiert werden, bekanntlich lügen und die Ärzte des
Militärkrankenhauses dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte,
dem Präsidenten selbst, verpflichtet sind.
Nichts ist in Frankreich, das ja ein gewähltes Parlament zum Regieren
hat, überflüssiger als der Präsident. Aber der Überflüssigste
ist leider der Mächtigste. Mit Hilfe seines Geheimdienstes, der
Steuerbehörden, die er seinen Gegnern an den Hals schickt, oder
einfach mit Hilfe eines Anrufs bei den Zeitungen regiert er das Land.
Um wirklich demokratisch geführt zu werden, müssten die Franzosen
den Präsidenten abschaffen. Aber auf dieses Nein wird man noch
lange warten. Frankreich, das seinen König köpfte, hängt
sehr an ihm: Hat er einen guten Teint, ist er heute schlecht gelaunt,
wem dreht er gerade einen Strick?
Der Staat ist nicht nur von unten nach oben verstopft, sondern auch
von oben nach unten.
Das Haus Frankreich wackelt in den Grundfesten, aber es ist ein altes
Haus und schwer zu reparieren - niemand wagt, an ihm zu rühren.
Wenn sich irgendetwas zu bewegen droht, hat man das Gefühl, wie
weiland in der UdSSR, das ganze System bricht zusammen. Alle sozialen
Gruppen verteidigen verbissen ihre »historischen Privilegien«,
die Gewerkschaften, die Parteien, die Staatsverwaltung, die Beamten,
die Fluglotsen, die Lastkraftwagenfahrer. Sie sind in einem prekären
Gleichgewicht erstarrt.
Aber wenn sich nichts bewegt, verknöchert das Leben, wird brüchig,
stirbt ab. Die Bewegungsangst der französischen Gesellschaft ist
an einem paranoiden Punkt angelangt, und die Frage ist nicht die nach
dem Überleben des »sozialen Systems«, sondern Frankreichs
als einem Land, in dem man noch angstfrei atmen kann. Frankreich ist
hysterisch, Frankreich ist verbittert, Frankreich ist unglücklich.
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Was tun? Es gibt für das Land nur eine Chance, wieder Boden unter
den Füßen, wieder Energie und Kraft für einen Neuanfang
zu finden: Es muss der Wirklichkeit ins Auge sehen. Es muss sein Bewusstsein
»entkolonisieren« - zuallererst das im Jahre 2005 verabschiedete
skandalöse Gesetz vom 23. Februar rückgängig machen,
das die Schulen dazu anhält, »die positive Rolle« der
Kolonisierung »vor allem Nordafrikas« zu propagieren. Es
muss seinen Arabern und Schwarzafrikanern endlich eine reelle Chance
geben, in die Politik, die Wirtschaft, das öffentliche Leben, wo
sie gar nicht vorkommen, eingelassen zu werden. Es muss seine Jugendlichen
nicht mit Schnellkursen, sondern wieder mit einer echten Ausbildung
ins Leben schicken, statt sie, wie der martialische Innenminister Sarkozy,
mit Polizeiknüppeln erziehen zu wollen. Es muss begreifen, dass
es nicht mehr ein großes Land ist, sondern ein kleines. Es muss
sich von seinem illusionären Selbstbildnis verabschieden, das aus
der grandiosen Vergangenheit schöpft. Es muss seine fossilen Institutionen
und Hierarchien abschaffen. Es muss die Kultur und weite Bereiche des
öffentlichen Lebens entpolitisieren, damit die Fähigen endlich
ans Ruder kommen, und sein auf Beziehungen, finstere Machenschaften
und Nepotismus aufgebautes soziales System begraben und neu erfinden.
Es muss! Wenn Worte heilen könnten, wäre Frankreich ein kerngesundes
Land. Aber ich befürchte, dass alle guten Ratschläge nichts
helfen und dass das Haus Frankreich langsam, aber sicher im Treibsand
der Geschichte versinkt. Nicht anders war es einst in Rom oder in Athen,
in Spanien oder Babylonien. Man hat nicht immer die Möglichkeit,
den unaufhaltsamen Verfall eines einstigen Weltreichs, das diesen nicht
wahrhaben will, aus der Nähe zu sehen. Es ist kein schöner
Anblick. Alle leiden unter der wachsenden Brutalität der sozialen
Beziehungen, der grenzenlosen Indifferenz, der Mitleidslosigkeit, den
abweisenden Bürokratengesichtern, jeder ist des anderen Feind,
keiner antwortet, keiner hilft, niemand hält es hier noch aus,
jeder will nur weg! Aber solange Gulliver sich weigert zu erwachen und
sich als der Zwerg zu erkennen, der er geworden ist, werden die Dinge
nicht besser, sondern schlimmer. Doch erwachen, das will er um keinen
Preis. Nein, nein und nochmals nein!
Der Theaterregisseur und Essayist Benjamin Korn lebt in Paris. Er ist
Träger des Brentano-Preises für Literatur der Stadt Heidelberg.
Zuletzt inszenierte er »Allô, Céleste« von
und mit Dominique Valentin im Pariser Théâtre le Petit
Hébertot
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