Die Wege zum Erfolg sind usurpiert, weil das Geburtsprivileg das Können und die echte Berufung übertrumpft hat. Vor zwei Jahren druckte Libération eine Seite mit 20 Fotos »berühmter Kinder« von Schauspielern ab. Wir lesen: Delon, Depardieu, Brasseur, Mastroianni, nicht die Originale, sondern lauter Söhne und Töchter, die sich nun selbst Schauspieler nennen und denen, die es verdient hätten, die Arbeitsplätze stehlen. Das ist nur die oberste Spitze eines Eisberges, aber auf diesen stürzt sich die ganze Klatschindustrie.
Nur: Wenn nicht mehr das Können entscheidet, sondern der Zufall der Geburt, was geschieht dann mit den wahren Künstlern, die in ihren Wohnungen vertrocknen und panisch auf das schweigende Telefon schauen? Man sehe sich das elende Resultat in Film und Fernsehen an! Der Nachrichtensprecher erhält einen Literaturpreis, das Mannequin fängt an zu singen, der Conférencier wird Schauspieler des Jahres. Wohin man auch schaut, in der Politik, der Industrie, der Kultur: mafiöse Verhältnisse, Ungerechtigkeit, Protektion.
Und wie reagiert die Bevölkerung, wie reagiert die Jugend, die zu 25 Prozent arbeitslos ist und ohne Hoffnung auf Arbeit lebt, auf diesen Zustand der allgemeinen Versteinerung und Verkalkung?
Niemand begehrt mehr auf. Nur die Jugendlichen in den Vorstädten
Sie flüchtet. Die Zahl der Jugendlichen, die Frankreich verlassen, ist schwindelerregend. Es gibt keine offiziellen Statistiken, aber sie fliehen zu Hunderttausenden nach Kanada, in die USA, nach England. Die hoch qualifizierten Naturwissenschaftler, die Chemiker und Physiker, die Cartoon-Zeichner, ja sogar die Köche wandern in die Vereinigten Staaten aus. In Quebec wird praktisch jede Bewerbung um eine Arbeit mit ja beantwortet. In London leben allein 200 000 Franzosen, in ganz England 300 000, das ist die Bevölkerung einer Großstadt! Hier finden sie einen Job, wäre er auch prekär, hier fragt man sie nicht nach ihren Vorfahren, nicht einmal nach ihrem Lebenslauf, hier können sie noch zeigen, was in ihnen steckt, statt in ihrem Heimatland zu versauern und sich verachten zu lassen.
Und die Zurückbleibenden? Sie träumen von Beamtentum und Staatsdienst. Die Kinder der Bauern verlassen die Höfe, die Tochter geht zur Polizei, der Sohn wird Lehrer. Beider Traum: eine kurvenlose Straße von der Anstellung bis zur Pensionierung. Endstation Sicherheit. Man wird Buchhalter in einer öffentlichen Verwaltung oder Berufssoldat, nach 17 Jahren Dienst winkt die Frührente. Grundschüler, nach ihrer Lebensperspektive gefragt, antworten, sie würden am liebsten von Sozialhilfe leben. Die Gesellschaft schottet sich ab. Der Regionalismus blüht. Man hört in den Radios keltische Musik und südfranzösische Dialekte. Auf den Dörfern werden Ritterspiele Mode: Die Teilnehmer grunzen sich mit barbarischen Lauten an, die sie für mittelalterliches Französisch ausgeben. Auf den Bauernhöfen gibt es Führungen auf Okzitanisch, einer Sprache, die nur noch von den Toten verstanden wird. Der Film Asterix und Obelix, mit Depardieu als Obelix, schlägt alle Einnahmerekorde.

 

Und die anderen, die weder ins Ausland noch in die Vergangenheit flüchten? Sie resignieren - sieht man von den sporadischen und verzweifelten Aufständen der in den Satellitenstädten zusammengepferchten Jugendlichen ab, Kindeskinder der einst Kolonisierten, die alle Hoffnung auf Arbeit und ein lebenswertes Leben längst begraben haben. Die durchschnittlichen Bürger begehren nicht mehr auf. Sie stehen wie die Schafe vor den Postschaltern - Langsamkeit ist ein Privileg Gottes und seiner Heerscharen, der Beamten -- und beschweren sich nicht. Sie essen kalte Steaks in den Lokalen und beschweren sich nicht, wenn der Bus eine halbe Stunde zu spät kommt. Sie gründen keine neuen Unternehmen, denn sie haben begriffen, dass die Banken nur den Reichen geben. Sie halten den Mund, wenn sie sehen, wie die immer brutaler werdenden Polizeibeamten ein paar zwölfjährige Schwarze wie Schwerverbrecher an die Wand stellen.
Der Widerstandsgeist der Franzosen ist gebrochen. Sie gehen nur noch zur Verteidigung der Löhne und der 35-Stunden-Woche auf die Straße. Ihr kleiner Besitzstand ist das Letzte, was sie mobilisiert. Da sagen sie noch nein. Der Staat hat den Sieg über seine Untertanen davongetragen. Er hat sie paralysiert und narkotisiert. Alle Gründe, aus denen ich Frankreich als Student liebte, Furchtlosigkeit, Offenheit, kritischer Geist, Diskussionslust, Witz, rebellisches Denken, sind in den 25 Jahren, die ich hier nun lebe, in einen breiten, alles zermahlenden Strom des Konformismus eingemündet.
Das Land verludert. Seine moralische Substanz ist verbraucht. Allein der Fremdenhass verteilt sich gleichmäßig auf alles Fremde, nicht nur auf die Dunkelhäutigen, die hier noch nie etwas zu lachen hatten - man hasst demokratisch: erst die Amerikaner, dann die Engländer, die Deutschen kann man nicht ausstehen, die Schweizer nicht leiden, die Belgier sind lächerlich, die Zigeuner ein mieses Pack, und nach Osten, nach Estland und Lettland hin, franst die Menschheit völlig aus. Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit? Nein und nochmals nein!
Wenn es nur darum ginge, dem kranken Patienten Frankreich die Diagnose zu stellen, wären die Dinge einfach. Aber leider ist das politische Erbe nicht nur eine Last des Bewusstseins und der Traditionen. Da ist noch das Gewicht und die Beharrungskraft der alten Institutionen, die sich nicht einfach wegdenken lassen. Von der mächtigsten war noch gar nicht die Rede: das Amt des französischen Präsidenten, eine Erbschaft des Ancien Régime, die aus ihm eine Art gewählten König mit absoluter Machtvollkommenheit macht. Es ist schwer zu begreifen, aber der Kampf der monarchischen und republikanischen Traditionen ist in Frankreich gleichsam noch nicht entschieden: Der König wurde geköpft, der König kam wieder, der König wurde Präsident. Kein Herrscher, kein Staatsoberhaupt der westlichen Welt hat auch nur annähernd die Macht des französischen Präsidenten. Er steht über dem Gesetz. Er kann belügen, betrügen, seinen Kammerdiener ohrfeigen, seine juristische Immunität ist, Hochverrat ausgeschlossen, absolut.