Frankreichs großer Selbstbetrug   © DIE ZEIT 21.12.2005 Nr.52
 

Die Straßen in Flammen, und sogar die Köche wandern aus: Frankreichs Stern sinkt, weil die einstige Weltmacht an ihren heroischen Illusionen festhält.
Ein Pamphlet Von Benjamin Korn

Es war ein Nein wie ein Gongschlag, als am Abend des 29. Mai 2005 die Stimmen in Frankreich ausgezählt wurden. Die Franzosen hatten der europäischen Konstitution den Todesstoß versetzt. Die Leitartikler der großen Zeitungen des Kontinents waren entsetzt und suchten verzweifelt nach Gründen, am ratlosesten aber waren die französischen Kommentatoren selbst. Sie hatten doch stets für ein klares Ja votiert, die Altlinken von Libération, die Halblinken von Le Monde, die Rechten des Figaro. Alle in der Nationalversammlung vertretenen Formationen, sogar die Grünen, hatten zum Ja aufgerufen.
Auch das Fernsehen war unzweideutig auf der Seite des Ja, von den Philosophen, den Schauspielern und berühmten Sportlern ganz zu schweigen. Selbst Zinédine Zidane, der unwiderlegbare Beweis dafür, dass es einen Gott gibt und dass er in Frankreich Fußball spielt, rief zu einem Ja für Europa auf. Alles umsonst. Frankreich stimmte mit Nein, und doch hatte nur eine bizarre Koalition von Splittergruppen, ein Konglomerat von Kommunisten und Faschisten, von Jägern und Fischern, von »Souveränisten« und Altgaullisten, die um Frankreichs Weltgeltung zitterten, fürs Nein geworben.
Ein gefesselter Gulliver, eingeschnürt von 24 europäischen Zwergen
Was bedeuteten alle diese kleinen Neins, die sich zu einem riesengroßen Nein auftürmten? Es wurde von den Kommentatoren wieder in viele kleine Neins zerlegt, die, addiert, das große Nein erklären sollten, die aber weniger mit der europäischen Konstitution zu tun hatten als mit der französischen Innenpolitik: ein großes Nein zur Arbeitslosigkeit, die seit 15 Jahren in Frankreich wütet. Ein Nein gegen den Absturz der Mittelklassen und den Zerfall der Gesellschaft in Steinreiche und Bettelarme. Ein Nein den korrupten politischen Eliten, deren Machenschaften in unzähligen Betrugs- und Bestechungsprozessen aufgedeckt wurden, ein Nein dem Präsidenten Chirac, der es allein seiner Immunität verdankt, dass er nicht wegen betrügerischer Zuteilung von Milliardenmärkten vor die Richter geschleift wird. Natürlich auch ein Nein gegen die Brüsseler Bürokratie, ein Nein zur Vernichtung des authentischen Camemberts und gegen den Niedergang des französischen Weins; ein Nein gegen den grenzenlosen Appetit der chinesischen Textilindustrie und die drohende Verspeisung von Danone durch Pepsi Cola. Ein Nein zum stagnierenden Realeinkommen und zu den rasant steigenden Preisen.

 

Was war geschehen? Ein Nein zur europäischen Konstitution kann es nicht gewesen sein, denn kaum einer hatte sie gelesen und noch weniger hatten sie verstanden. Es schien, den Statistiken zufolge, einige Anhaltspunkte zu geben: Die Handarbeiter hatten mehr mit Nein gestimmt als die Kopfarbeiter, die Bewohner der Provinz mehr als die Bewohner von Paris, die Armen mehr als die Reichen, die Jungen mehr als die Alten. Aber das erklärte nicht, wieso es gerade in den homogensten Gruppen zu entsetzlichen Auseinandersetzungen gekommen war: Ehen waren an einem Ja oder Nein zerbrochen, Freundschaften auseinander gekracht.
Frankreich, das sich ohnehin seit Jahren in einer permanenten Katastrophenstimmung, hierzulande sinistrose genannt, befindet, war am Rande eines Nervenzusammenbruchs. Den Franzosen lag das Nein auf der Zunge, ein Nein zu ihrer Regierung, die wie paralysiert auf ihr Volk starrte (das nicht minder bedrohlich zurückstarrte, weil es keine Reformen will), ein Nein zu einem nebulösen Europa, ein Nein zum Schreckgespenst Amerika, ein Nein zum Aufstieg Chinas, ein Nein zur Welt, ein fast metaphysisches Nein. Die Angst vor der Zukunft schwang die Peitsche in Frankreich. Und diese Angst gebar in diesem einst so generösen Land, das seit 200 Jahren alle politisch und rassisch verfolgten Menschen Europas mit offenen Armen aufgenommen hatte, die Monster Feindseligkeit, Engherzigkeit, Fremdenhass. Die Wahlen zur EU-Verfassung wurden zu einem nationalen Psychodrama.
Die miesesten Gefühle brachen sich Bahn, und der »polnische Klempner« wurde zum Symbol einer beispiellosen xenophoben und nationalistischen Hetze. Er gefährde einheimische Arbeitsplätze, doch kein Politiker hatte die Kraft, mit einer überzeugenden Rede auf die jüngst errungene Freiheit der Völker Europas, auf die alte Freundschaft mit Polen, auf die kosmopolitische Tradition Frankreichs und seine legendäre Großherzigkeit hinzuweisen, um endlich hinzuzufügen, dass niemand willkommener sei als der polnische Klempner in einem Land, in dem es an Tausenden von Handwerkern fehlt, an Malern, Tischlern und Maurern. Der Sieg des Nein hat Frankreich nicht mächtiger gemacht, sondern geschwächt. Es kam wie ein Bumerang zurück.
Chirac wurde zur Schießbudenfigur aller europäischen Karikaturisten, die Nachbarstaaten, die mit Ja gestimmt hatten, fühlten sich verraten, und Frankreich verlor den Kampf um die Olympischen Spiele - ausgerechnet gegen die Engländer mit ihrem so andersartigen »liberalen System« (in Frankreich ein Schimpfwort für entfesselten Kapitalismus), das vor Vollbeschäftigung und Energie platzte. Auf das Nein Frankreichs zu Europa folgte ein Nein der Welt zu Frankreich.