ganzheitlicher Abbildungen von vorgegebenen Realitäten folgen, sondern als formal reduzierte, scheinbar abstrakte Strukturen, ausschnitthaft auf solche zurückverweisen. Hiermit formuliert er zwei weitere Argumente, die seine Haltung dem Medium gegenüber dokumentieren und zugleich den Betrachter in seinen Seh- und Denkgewohnheiten herausfordern. Ohne daß die Strukturen und Monochromien im Einzelnen vom aussenstehenden Betrachter genau bestimmt werden können, lassen sie doch Eigenschaften erkennen, die sich mit einer autonomen und keiner künstlich geschaffenen Realität verbindet. Rudolf Bonvie zieht demnach als Ausgangsmaterial für seine Fotaarbeiten fotografische Quellen heran, die er selbst hergestellt hat - eigene Fotografien also, mit denen er formal-methodisch und inhaltlich-künstlerisch evokativ umgeht. Sein Auge ist hinter jedem Motiv, jedem Ausschnitt, hinter der getroffenen Wahl und dem festgelegten Grad der Vergrößerungen nicht nur zu vermuten, sondern konstituierendes Moment jeder dieser neuen Fotoarbeiten. Er stellt damit auch die inhaltlichen Bezugspunkte her: die Wahl des einzelnen Motivs hat demnach unmittelbar etwas mit ihm selbst, die strukturelle Verfremdung via extreme Vergrößerung und ihre Festlegung in einem typisierten Ausschnitt als ,Rasterformat' etwas mit dem ebenso kritischen, wie innovativen Umgang mit Fotografie zu tun.
Das fotografisch reproduzierte Bild eines realen Ortes, eines Geschehens, das Portrait eines Menschen usw., alle diese inhaltlich festgelegten, als Informationen eindeutig bestimmten Momente, die im konventionellen Umgang mit dem Medium Fotografie, wie auch mit allen anderen reproduktiven Medien nur als Ausschnitt einer Realität faßbar und gegeben sind, kehrt Rudolf Bonvie kategorial um. Aus einer Vielzahl von inhaltlich formulierten Bild- d.h. Gedanken- und/oder Erinnerungssplittern, die bewußt in ein Bildflächenformat gebunden sind, gibt er dem Ausschnittcharakter einen anderen, neuen, positiven d.h. gestalterischen Sinn. In der konventionellen Fotografie wird der Ausschnitt immer als Mangel, als Begrenzung, als schmerzliche Trennung von der Ganzheitlichkeit der Realität empfunden, die wir mit unseren Sinnen, besonders mit dem Auge zwar weitgehend ganzheitlich erfassen, aber doch nur selektiv tatsächlich wahrnehmen und als Information im Gehirn speichern. Erst die Vielfalt und Fülle dieser Informationen und die interaktiven Wirkungsmechanismen unseres Gehirns lassen in unserem Bewußsein jenes BILD zu, das wir im Prozeß des SEHENS in Millionenbruchteilen von Sekunden als Realität dessen begreifen, was sich uns als Realität darstellt. Rudolf Bonvie zieht aus diesen physiologischen Gegebenheiten der Wahrnehmung und des Sehens eine künstlerische Konsequenz von großer Tragweite. Er befreit die Fotografie aus den Fesseln Realität nur reproduzieren zu müssen,um unseren Sehgewohheiten
 

zu gefallen. Es gelingt ihm mit einer ,geringfügigen' kategorialen Umwertung einer formalen Bedingung, ohne die Fotografie nicht funktioniert, den Handlungs- und Bedeutungsrahmen nicht nur radikal zu verändern und zu erweitern, sondern endgültig die Fotografie den anderen autonomen Bildkünsten Malerei, Zeichnung, Skulptur und graphische Techniken gleichzustellen, die mit den Händen aus der Aneinanderreihung/ Zusammensetzung vieler Einzelhandlungen und gestalterischer Setzungen der Materie Farbe, Grafit oder anderer Materialien, oder dem Wegnehmen von Materie geschaffen werden, um gestalteten Raum in einer Skulptur herzustellen.
Dieser kleine, aber bedeutsame Schritt hat auch eine ebenso wichtige inhaltliche Konsequenz. Aus einer Vielzahl von vereinzelten Bildteilen, die nun formal und inhaltlich eine autonome Ganzheitlichkeit in Analogie zur Autonomie von Realität für sich beansprucht und Gültigkeit erhält, wie sie auch für die klassischen Künste als eine ,autonome' Welt parallel zur Realität der Natur gilt, gewinnt der Sinn dieser neuen Werkgruppe "Portrait" nun einen anderen Stellenwert. Aus der additiven, kombinatorischen Koppelung verschiedener autonomer, ganzheitlicher,aber durch das Medium Fotografie dennoch an eine ursprünglich haptisch gegebene Realität gebunderner Bildteile, konstituiert er das BILD eines Menschen als ,,Portrait", das jenseits der Anschaulichkeit in der assoziativen Fantasie des Betrachters als ein eigenwertiges BILD einer inneren Selbstprojektion auf die Mattscheibe des Bewußtseins Gestalt, Ausdruck und Präsenz gewinnt. Neben der formal-methodischen verwirklicht Rudolf Bonvie zugleich eine inhaltlich-existentielle Kombinatorik verschiedener Realitätsebenen: es ist die fotografisch dokumentierte, transformierte Realität der Existenz des Fotografen, des Autors der Fotoarbeit und die von ihr evozierte Realität der Fantasie des Betrachters. Hiermit führt er einen neuen instrumentalisierbaren Realitätsbegriff ein, mit dem er mehrere Realitätsebenen als konstituierende Elemente eines bildnerischen Denkens und Gestaltens in einem übergeordneten, d.h. vom Einzelbild und einzelnen Betrachter unabhängigen Sinn, verbindet und sie im Rahmen des Mediums Fotografie als Diskursebene über Fragen der Fotografie als Medium, wie über Fragen ihres Interpretationsspektrums erschließt.
Ohne Rudolf Bonvie im Einzelnen zu befragen, woher er dieses oder jenes Motiv entnommen hat, was dieses als Ausgangsmaterial für ihn tatsächlich als historische Reminiszenz oder als aktueller Eindruck, als ein Dokument in seinem Lebensumfeld oder in der Auseinandersetzung mit der Lebenswirklichkeit persönlich bedeutet, lassen sich die Fotoarbeiten inhaltlich nicht eindeutig entschlüsseln. Dies ist aber auch nicht unbedingt erforderlich. Es gilt dieses Faktum als inhaltlich konstituierendes Moment